Bald in der Bundesrepublik: Michael Jackson
Flammen aus den Fingern
Beginn der Welttournee in Amerika – Perfekter Entertainer, seltsame Branche
Aktualisiert 29. April 1988 08:00 Uhr
Von Barry Graves
Er ist „der schlechteste Sänger des Jahres“, mit dem „schlimmsten Album“, der „scheußlichsten Plattenhülle“ und den „furchtbarsten Videos“, der „am geschmacklosesten gekleidete Rockstar“, dem 1987 das „am wenigsten willkommene Comeback“ widerfahren ist. So urteilten Leser der Musik-Illustrierten „Rolling Stone“ in ihrer alljährlichen Abstimmung über Michael Jackson und die Promotion-Effekte für seine Langspielplatte „Bad“.
Die 226 Musikjournalisten, die die Wochenzeitung „Village Voice“ vor kurzem zu Richtern über das abgelaufene Pop- und Jazz-Jahr bestellte, reagierten vornehmer auf die Konfrontation mit dem Jackson-CEuvre – sie erwähnten es gar nicht erst. Dafür setzten 115 von ihnen in der Tabelle der besten Alben des Jahres den Jackson-Antipoden Prince und sein „Sign ’O’ the Times“ auf den ersten Platz.
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Auf der Suche nach dem „widerwärtigsten Video-Clip aller Zeiten“ wurde zur gleichen Zeit die New York Times überraschend schnell fündig: Michael Jacksons „Man in the Mirror“, eine Montage aus Elendsbildern der Dritten und Vierten Welt, verschnitten mit Nachrichtenmaterial von Bischof Tutu, Mutter Teresa, Martin Luther King und Ghandi bis zu John Kennedy, Lech Walesa und John Lennon. Hunger-Schick und Terror-Glamour als Verkaufshilfen haben sich ausgezahlt: „Man in the Mirror“, die vierte Single aus „Bad“, erreichte wie ihr Vorgänger-Titel mühelos den ersten Platz der US-Charts.
Das neue Jackson-Album hat sich bislang zwölf Millionen Mal verkauft (bundesdeutscher Umsatz: 900 000 Stück), und dennoch geht das böse Wort vom „relativen Flop“ um (zum Vergleich: „Thriller“ von 1982 erreichte eine Weltauflage von 45 Millionen Exemplaren und fand in Deutschland 1,2 Millionen Abnehmer). Michael Jackson wird erbarmungslos am absurd hohen Maßstab gemessen, mit dem seine Dauer-Propagandisten ihn von den gewöhnlichen Sterblichen der Rockindustrie abgrenzen wollen.
Die Klatschgeschichten über den einsiedlerischen Ultrastar bedienen sich inzwischen jeder grotesken Unterstellung und schrecken auch vor alptraumhaften Spekulationen nicht zurück. So soll Michael, wenn einer töricht genug ist, abgestandene „Bild“-Storys zu glauben, in Wahrheit seine Schwester La Toya sein – als käme eine Künstlerfamilie, die seit mehr als zwanzig Jahren in der internationalen Öffentlichkeit agiert, mit einem derartig überdrehten Hosenrollen-Spiel durch. Neben einem Zoo mit exotischen Tieren, einem Zimmer voller Schaufensterpuppen und einer Privat-Geisterbahn soll sich Jackson inzwischen auf seinem Grundstück in Encino, Kalifornien, einen Schrein für die angebetete Schauspielerin Elizabeth Taylor zugelegt haben. Angeblich bleibt ihm nur diese Ersatz-Kulthandlung, weil die Diva seinen Heiratsantrag abgelehnt habe.
„Ich weine sehr oft, denn das alles tut so weh“, klagte „Whacko Jacko“ („Macken-Michael“, wie ihn die britische Boulevardpresse schimpft) ausgerechnet in einem Brief an die Klatsch-Zeitschrift „People“. „Habt doch Mitleid, denn ich blute schon seit langer Zeit.“ Wenn die Meute aber erst einmal Blut geleckt hat, bleibt sie auf der Fährte. Michael Jackson scheint zum Abschluß freigegeben für übersättigte Musikjournalisten und ein sensationslüsternes Konsumentenpublikum. „Ich stelle mir den Durchschnittsmenschen immer vor als jemanden, der auf mich zustürzt und versucht, mir die Kleider zu zerreißen“, behauptet der 29jährige Sänger, der stets Star war, nie eine Kindheit hatte und seine Pubertät nun durch kosmetische Korrekturen oder Qucksalber-Kuren ins Unendliche verlängern möchte.
Der erste Superstar des globalen Dorfes ist in der Bredouille. Hautfarbe, Nationalität, Geschlecht und Musikstil sind Kategorien, nach denen ihn die Fans von Baku bis Borneo nicht mehr taxieren. Er hat sich clever zum universalen Populär-Mythos entwickelt, zum E.T. aus der Rhythm & Blues-Milchbar. Dabei entspricht die hysterische Reaktion der Öffentlichkeit gar nicht der kulturhistorischen Bedeutung seiner Musik. Doch seine naiven Tanzschlager von romantischer Teenager-Liebe und halbstarker Rastlosigkeit sind ein so wichtiger Faktor in der Freizeitindustrie der Medienkonzerne, daß sie automatisch große Aufmerksamkeit finden.Ein überkandidelter Rock-Journalismus hat inzwischen alle halbwüchsigen Lust- und Frust-Artikulationen soziologisch verbrämt und ästhetisch verklärt. So kann es dann kommen, daß ein intelligenter Pop-Handwerker wie „Talking Heads“-Leader David Byrne von Time gleich zum „Renaissance-Menschen“ geadelt wird.
Da muß wohl einer verrückt spielen, um normal zu bleiben. Michael Jackson weiß, daß jeder Tag, der ihn älter werden läßt, seine Peter Pan-Existenz gefährdet. Deshalb kauft er sich ein synthetisches Kindertraum-Paradies zusammen und fühlt sich nur dort wohl, wo Schein- und Schallwerfer Raum und Zeit aufzuheben scheinen – auf der Bühne.
Musikalisches Illusionstheater
Seine spektakuläre Show, die im Frühsommer Deutschland ereichen wird, ist ein Paradebeispiel musikalischen Illusionstheaters. Jackson live hat keine Botschaft, er vermittelt oder verstärkt kein Lebensgefühl. Er sagt und singt nichts über sich, will weder Kumpel noch Rattenfänger sein. Er bietet zwei Stunden lang nonstop in achtzehn Songs den Mythos Jackson in scheinbar greifbarer Nähe.
Im Grunde verfährt sein kommerzieller Rivale Prince nicht anders mit dem Publikum. Auch er ist scheu und schrullig. So läßt er in Discos, auf Parties und bei Empfängen allen Gästen durch seine Leibwächter jeden Versuch, einen Blick mit ihm zu wechseln, verbieten. Vergangene Weihnacht plante er unter dem Tarnnamen „Somebody“ die heimliche Veröffentlichung eines Albums ganz in schwarz, ohne jede Angabe zu Inhalt und Interpreten (WarnerWX 147). Da jedoch der von ihm gewünschte Veröffentlichungstermin nicht eingehalten werden konnte, weil die Preßwerke gerade mit Hochdruck einen Disco-Mix der Dame Madonna herstellten, blies Prince die manierierte Verkaufsoffensive beleidigt wieder ab. Raubkopien des unveröffentlichten „Black Album“ sind nun beinahe an jeder Straßenecke zu kaufen.
Noch exzentrischer agierte der erotische Animateur 1986/87, als er der Vertriebsfirma WEA drei Platten seines Albums „The Crystal Ball“ anbot. Ohnehin sind solche umfangreichen Platten-Editionen auf dem Pop-Sektor schwer verkäuflich. Was die Warner-Brüder jedoch irritierte, war, daß Prince alle Stücke mit technisch hochgepuschter Falsett-Stimme als seine vermeintliche Schwester „Camille“ vortrug. Für Mai hat er nun den neuesten offiziellen Vorstoß mit dem Album „Love Sexy“ geplant, möglicherweise zusammengestellt aus den 350 Musiktüfteleien, die er in seinen Paisley Park-Studios bei Minneapolis bereithält. Unter all den Freaks und Hasardeuren im Recycling-Business des Rock ist Prince der King. Im Niemandsland zwischen Hippie-Historie und Synthi-Moderne sehen aber manche Kritiker statt eines Power-Rock-Prinzen nur einen Porno-Grafen am Werke: „Er fummelt dauernd an sich herum und drückt ganz aufgeregt auf seinen elektronischen Selbstauslöser; doch nichts passiert.“
In der Tat verpufft sein Feuerwerk von rockhistorischen Déjà vu-Effekten oft sehr schnell, ist dabei aber doch dem gängigen amerikanischen Hitparaden-Pop stilistisch um Jahre voraus. „Luzifers Antwort auf Michael Jackson“ (The Face) bastelt in atemberaubender Fertigkeit immer wieder neue, aufregende Puzzles aus den Pop-, Soul-, Funk- und Blues-Versatzstücken des modernen Rock, erreicht dabei allerdings nicht die Grandeur Michael Jacksons. Wenn das „Bambi der Rockmusik“ (USA Today) mit seiner Falsettstimme durch oftmals banale Nonsensverse winselt, sich in Murmeln, Stöhnen, Schluckauflauten verliert, mit schweren Atmern den polyrhythmischen Background-Effekten voranhaspelt und schließlich mit pubertären Kieksern wartet, bis ihn die Musik wieder einholen kann, dann vereinen sich Unschuld und ausgekochter Professionalismus, unverstellte Gefühlstiefe und ausgefuchste Kalkulation zu einem explosiven Gemisch. Mit einem Team von vier Sängern, vier Tänzern und sieben Musikern wirbelt Jackson durch sein Repertoire, erweitert seine Hits zu spektakulären Shownummern, tanzt sich in Ekstase.
Fred Astaire hat über das Energiebündel einmal gesagt: „Er bewegt sich wundervoll, es ist das reine Vergnügen, ihm zuzuschauen.“ Wahrhaftig, Jacksons exzessiver Tanzstil ist seit den Videodarbietungen von „Beat It“, „Billie Jean“ und „Thriller“ noch kühner geworden. Jacksons Tanz ist Bewegung um ihrer selbst willen, Akrobatik einer enthemmten Körperlichkeit, scheinbare Aufhebung der Schwerkraft. Er schüttelt sich, als wolle er sich Elektrizität aus dem Leib schlagen, wirbelt sich in eine Pirouette hinein, fällt zu Boden, rollt vornüber, springt hoch und nieder wie auf einem unsichtbaren Trampolin, hetzt im Stepschritt über die Bühne, rutscht mutwillig aus und fängt sich mit einem Hechtsprung.
Das wirkt zwar bisweilen zufällig, grobschlächtig. Doch wenn die Tänzer ihn dann akkurat imitieren, wird die ausgeklügelte Präzision der Jackson-Choreographie augenfällig. „Gibt es überhaupt noch jemanden, der wie Michael tanzen kann?“, fragte die Ballettkritikerin der New York Times nach dem Konzert, geradezu trunken vor Begeisterung. All die Gerüchte über seine absonderliche Lebensführung, die Häme der blasierten Trend-Schickis und die Überzogenheit der ersten Konzertberichte aus der amerikanischen Provinz („seelenloses Spektakel“) hoben sich auf angesichts der beiden Jackson-Auftritte im New Yorker Madison Square Garden und bei der Grammy-Verleihung Anfang März.
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Die Grammy-Show ist die alljährliche Gratulationscour der Branche für die Branche. Im Auftrag der „National Academy of Recording, Arts and Sciences“ (NARAS) ermitteln sechstausend Juroren (Musikverleger, Manager, aktive Künstler) in mehr als siebzig Kategorien von Pop bis Polka die Spartengewinner eines kleinen goldenen Trichtergrammophons. Die dreißigste Verleihung des Prestige-Preises in der Radio City Music Hall wurde zu einer Blamage der angeblichen Experten: Der vom Getto in den Mainstream geratene Sprechgesang des „Rap“ wurde ebenso ignoriert wie die erfolgreichen Fächer „Dance Music“ und „Heavy Metal“. In der Abteilung „Rocksängerinnen“ war die Jury unfähig, fünf Grammy-Kandidatinnen zu finden. Die meisten NARAS-Mitglieder sind immer noch einer altmodischen Tin Pan Alley-Ästhetik verhaftet und halten Rock, dreißig Jahre nach „Tutti-Frutti“, immer noch für ein exotisches Subgenre. In ihrer Hilflosigkeit und Inkompetenz wählten sie eine Hollywoodschnulze zum Song des Jahres und gaben Paul Simon schon wieder einen Hauptpreis für sein 1986 erschienenes Album „Graceland“, das in diesem Jahr eigentlich gar nicht mehr hätte nominiert werden dürfen. Michael Jackson erhielt diesmal keinen Grammy, wohl aber eine stehende Ovation für die Tanz-Pyrotechnik seines Weltverbesserungs-Schlagers „Man in the Mirror“.
Die Grammy-Übertragung im Fernsehen wurde mit vier Werbespots seines Tournee-Sponsors Pepsi garantiert, die den Star nicht etwa beim Brausetrinken zeigten, sondern im Hexenkessel seiner Live-Show und auf der Flucht vor enthemmten Fans. Wenn Michael Jackson Werbung macht, dann macht er vor allem Werbung für sich selbst. Nur so ist die stillose Verwendung seines Songs „Bad“ in der Getränk-Empfehlung zu verstehen. Denn normalerweise geben Superstars das Kernmaterial ihres Œuvres nicht zu Werbezwecken her. So verklagten die Beatles im vorigen Jahr die Turnschuhfirma Nike auf achtzehn Millionen Dollar Schadenersatz, weil der Sportausstatter einen Reklamespot mit dem Pilzkopf-Klassiker „Revolution“ unterlegt hatte. Die Rechte hatte sich Nike beim neuen Besitzer der Beatles-Copyrights besorgt: bei Michael Jackson.
Funkensprühende Anzüge
Im Madison Square Garden kam Pepsi nicht zum Zuge, denn dort hat Coke die Ausschank-Konzession. Dafür machte Michael sein Publikum geradezu betrunken mit all den Effekten, Tricks und Gags, die sich bei 500 000 Dollar Produktionskosten pro Woche realisieren lassen: mehrfarbige Lasergewitter, Lichtbomben, fluoreszierend glühende Nebelwände, funkensprühende Anzüge, Fiberoptik-Perücken und Videogroßprojektionen aus extravaganten Kamerapositionen gehören da schon zur Grundausstattung. Ein Zaubertrick von Siegfried und Roy aus Las Vegas läßt Michael in einem silbrigen Zylinder verschwinden und Sekunden später am anderen Bühnenende im neuen Kostüm wieder auftauchen. Bei seinem Anti-Macho-Hit „Beat It“ hebt sich ein Auslegerarm aus dem Bühnenboden und trägt den Sänger weit über die ersten Parkettreihen, während unsichtbare Windmaschinen effektvoll Hemd und Haare flattern lassen. Wenn er sich zu seinen erotisch überhitzten Songs in den Schritt faßt, zucken schon mal Flammen aus den Fingern. Gelegentlich verliert er sich in pantomimischen Kabinettstückchen à la Marcel Marceau, oft genug fegt er mit seiner Tanzgruppe über die Bühne, als habe ihm der selige Broadway-Hero Bob Fasse bei seiner Zappel-Akrobatik assistiert.
Die gängigen Anti-Jackson-Attribute wie „effeminiert“ oder „larmoyant“ treffen auf diese hyperkinetische Show nicht zu. Die Gitarristin Jennifer Batten gibt einen metallisch krachenden Beat vor, bei dem Jackson sich so gut wie keine Weinerlichkeit leistet. Ausgerechnet der als wimp (Schlaffi) gescholtene sanfte Star steigert sich in einen bisweilen manischen Dampfhammer-Pop, als habe er ein getrübtes Image zu dementieren. Ein Zoomblick durchs Fernsehen bestätigt: Der Mann hat wirklich Freude, sich in der Neon-Manege seines Tournee-Zirkus zu verausgaben; er hängt nie durch und baut jeden Song so auf, als sei dies seine letzte Chance einer Pop-Show auf Erden.
Nur bei einem Medley der alten Songs aus seiner Kinderzeit („I Want You Back“, „The Love You Save“) wirkt er indifferent, als dürfe der Peter Pan der Popmusik keine Vergangenheit haben. Doch dann holt er unter den „Woof woof“-Schreien der enthusiasmierten Fans aller Hautfarben, Altersgruppen und sozialen Herkunft zum Finale mit „Billie Jean“ aus. Und tanzt seinen „Moonwalk“, jene unnachahmlich vertrackte Schrittkombination, als gleite ein gut geölter Roboter auf unsichtbaren Kufen über die Bühne. Die Stimmung im Garden hat die Dezibel-Werte einer startenden Apollo-Rakete erreicht.
Michael Jackson ist der perfekte Entertainer, ein Magier und Illusionist von hohen Graden. Wenn er sich mit leicht eingeknickten Beinen in Hochwasser-Hosen, weißen Socken und ganz normalen Straßenschuhen wie ein Ballettstar auf die Zehenspitzen stellt und den Schlapphut tief ins Gesicht schiebt, dann ist diese Pose genauso unvergeßlich wie Charlie Chaplins watschelnder
Gang. Er ist zu einer Ikone der amerikanischen Populärkultur geworden.
Quelle:
http://www.zeit.de/1988/18/flammen-aus-den-fingern